
Monatelang stand sie scheinbar festgesetzt auf einem Werkgelände in Kiew. Doch am 11. Juli gelingt Antonov Airlines ein Überraschungscoup: Die An-124 UR-82073 hebt unbemerkt vom russischen Militär ab, überquert offenbar die Grenze – und landet sicher in Leipzig. Dort wird das modernisierte Schwerlastflugzeug nun Teil der weltweit größten aktiven An-124-Flotte.
Am späten Vormittag des 11. Juli 2025 dürften die Spaziergänger in Kiew überrascht in den Himmel geschaut haben. Ein Donnergrollen? Wohl kaum ein Gewitter. Vielmehr ein vertrauter, tief vibrierender Ton – einer, den man lange nicht mehr gehört hatte. Im Tiefflug donnerte ein weißes, blau-gelb lackiertes Transportflugzeug über den westlichen Stadtrand Kiews. Die Maschine trägt keine militärischen Hoheitszeichen – aber ihre Silhouette ist unverwechselbar: eine Antonow An-124. Das Flugzeug gehört zur Flotte der Antonow-Werksfluggesellschaft Antonov Airlines und stand über vier Jahren unbeweglich auf dem Gelände des Antonow-Werks im Kiever Stadtteil Swjatoschyn.
Doch statt eines kurzen Testflugs über der Stadt am Dnepr begibt sich der jahrelang am Boden gestrandete Koloss auf einen Streckenflug. Das Transpondersignal zunächst ausgeschaltet, verlässt die Maschine den ukrainischen Luftraum über Polen und fliegt immer weiter in Richtung Westen. Dann um 14:38 Uhr Ortszeit setzt die UR-82073, sicher auf der Nordbahn des Flughafens Leipzig/Halle auf.
Der Coup ist gelungen. Antonov Airlines hat eine ihrer wichtigsten Maschinen aus dem blockierten Kiew herausgeflogen – vorbei an russischer Aufklärung, durch einen nach wie vor gesperrten Luftraum, hin zu ihrem neuen Stützpunkt in Ostdeutschland.
Operation im Verborgenen
Die UR-82073 stand seit März 2021 am Werksflughafen von Antonov in Swjatoschyn, am westlichen Rand Kiews, ursprünglich zur Wartung geparkt. Dann kam der Krieg. Als russische Truppen im Februar 2022 mit Gewalt auf die Hauptstadt vorrückten und das nahegelegene Hostomel, Heimatbasis der Antonow-Flotte, unter Beschuss geriet, war klar: Die Maschine würde erst einmal nicht mehr starten. Die UR-82073 saß fest – geparkt in einem Werksgelände, das bald selbst Ziel mehrerer russischer Angriffe wurde.
Dass das Flugzeug dennoch nicht zerstört wurde, ist allein schon bemerkenswert. Die Bilder der Zerstörung ihrer noch größeren Schwestermaschine der Antonov An-225 „Mrija“ sind auch nach über drei Jahren noch jedem vor Augen. Dass die Maschine ihre umkämpfte Heimat nun verlassen konnte, war logistisch wie politisch wohl ein kleines Kunststück.
Der Luftraum über der Ukraine ist seit Beginn des Krieges für zivile Flüge gesperrt. Ein Start aus Kiew – völlig ohne Transponder – war nur unter strengster Geheimhaltung und mit Absprache der Flugsicherung in Polen möglich. Denn erst als die Maschine den sicheren Luftraum ihren westlichen Nachbarn erreicht, wurde sie für die Flugsicherung und damit auch auf den Flugverfolgungsportalen sichtbar.
Antonovs neue Heimat
Dass die UR-82073 ausgerechnet in Leipzig/Halle landet, ist kein Zufall. Seit der Zerstörung des Flughafens Hostomel nutzt Antonov Airlines den mitteldeutschen Airport als neue operative Basis. Dort ist inzwischen die weltweit größte betriebsfähige Flotte von An-124 stationiert – bislang fünf Maschinen. Für den Flughafen, traditionell ein Schwerlaststandort mit engen Verbindungen zur Bundeswehr und anderen NATO-Partnern, ist das ein bedeutender Gewinn – operativ, wirtschaftlich und symbolisch.
Mit der Ankunft der UR-82073 wächst die Einsatzflotte von Antonov nicht nur zahlenmäßig. Auch technisch bringt die Maschine Besonderheiten mit: Während ihrer Standzeit in Swjatoschyn wurde das Flugzeug systematisch von russischen auf ukrainisch-westliche Komponenten umgebaut: hochmoderne Avionik von Honeywell und Garmin, ein neues Glascockpit und Triebwerksauslässe mit sogenannten Chevron-Düsen – gezackte Endstücke zur Schallreduktion – machen sie zu einem der modernsten Vertreter ihrer Baureihe. Fotos vom Überflug und von der Landung zeigen die charakteristischen Triebwerksformen deutlich.
Laut Antonov-Statement wurde die Maschine nicht nur für den praktischen Einsatz reaktiviert, sondern auch zur Erprobung und Zertifizierung dieser Modifikationen nach Leipzig gebracht. Ein regulärer Frachtbetrieb dürfte bald folgen.
Blamage für Russland
Zwar hat der Flug der Antonov auch westliche Branchenbeobachter völlig überrascht. Für Russland, das über Jahre hinweg den Himmel über der Ukraine als engmaschig überwacht wähnte, ist es aber eine empfindliche Blamage. In einem Bericht der Flug Revue werden beispielsweise Kreml-nahe Telegram-Kanlen wie „Fighterbomber“, der als Sprachrohr der russischen Luftwaffe gilt, zitiert. Die Maschine hätte entweder am Boden zerstört oder unmittelbar nach dem Start abgeschossen werden müssen, so der Tenor. Dass ein Flugzeug mit „der Radarsignatur eines kleinen Planeten“ unbemerkt die Grenze überqueren konnte, sei ein „trauriger Vorfall“, der das Versagen des Geheimdienstes offenbare.
Dabei hatte es schon zuvor wiederholt russische Angriffe auf das Werkgelände in Swjatoschyn gegeben. Im Fokus dieser Angriffe dürfte aber sicherlich die Produktionslinie der Ljutyj-Drohnen gewesen sein, die die Ukraine seit dem letzten Jahr immer wieder erfolgreich gegen Russland einsetzt. Zugleich ist Swjatoschyn noch die unvollendete Zelle einer zweiten An-225 „Mrija“ beherbergt. Dennoch überstand die UR-82073 alle Drohnen- und Raketenangriffe – möglicherweise auch, weil ihr Abtransport bereits vorbereitet wurde. Auf Satellitenaufnahmen war sie zuletzt im Freien sichtbar – für westliche Beobachter ein Hinweis, dass der Start unmittelbar bevorstehen könnte. Die russischen Dienste sahen offenbar nichts – oder reagierten zu spät.
Symbol des Durchhaltewillens
Die Flucht der Antonov hat neben der taktischen aber auch noch eine große symbolische Bedeutung. Auf dem Rumpf der UR‑82073 prangt nun neben den üblichen Markierungen auch der Schriftzug „Be Brave Like Irpin“ – eine stille, aber kraftvolle Hommage an die Verteidiger jener Vorstadt Kiews, die im Frühjahr 2022 zum Symbol ukrainischen Widerstands wurde.
Die Maschine selbst hat eine lange Geschichte: Über 21.000 Flugstunden und rund 5.500 Einsätze liegen hinter ihr. Gebaut wurde sie 1994 – ausgerechnet im russischen Uljanowsk. Dass sie heute, modernisiert und technisch aufgerüstet, im Dienst eines Landes steht, das sich entschlossen von russischer Kontrolle emanzipiert, ist mehr als nur eine Ironie der Geschichte. Es ist ein fliegendes Zeichen der Selbstbehauptung – und ein stiller Triumph in Zeiten lauter Bedrohungen.